Ich schließe die Augen und stehe an einem einsamen Strandabschnitt. Vor mir die endlose Weite zwischen Himmel und Ozean, weicher Sand befindet sich unter meinen Füßen. Ich breite die Arme zur Seite aus, spüre, wie der Wind sie leicht nach hinten drückt. Ein tiefer Atemzug und ich fühle mich frei. So frei wie seit langem nicht mehr. Das Leben hat mir einen tiefen Blick in meine eigene Seele geschenkt und mir die Augen für eine Wahrheit geöffnet, die nur ich zu verstehen vermag. Denn es ist mein Leben. Meine Geschichte. Meine Vergangenheit.
Die fehlende Mutterliebe, mein Hadern mit der Mutterrolle, die Hochsensibilität – all das fügt sich nun zusammen. Wie verstreute Puzzleteile, die kreuz und quer über den Tisch verteilt lagen und nun ein stimmiges Gesamtbild ergeben.
Als mit der Geburt meines Ältesten meine mütterlichen Gefühle für ihn verstummten, als ich Ängste entwickelte und mein eigener Lebenssinn schwand, fand ich irgendwann einen Begriff, an den ich mich klammern konnte: Postpartale Depression.
Als mir die Fremdbestimmtheit der Mutterrolle den Atem nahm, mein Leben mit Kindern sich wie ein einziger Gefängnisaufenthalt anfühlte, stolperte ich über Regretting Motherhood.
Als ich mich mit dem Phänomen Hochsensibilität auseinandersetzte, fand ich endlich eine Erklärung für meine schnelle Überreizung, Unterforderung und Dünnhäutigkeit.
Ich hatte Namen, an denen ich mich festhalten konnte und die mir die Sicherheit gaben, dass ich nicht falsch bin. Dass es noch andere Menschen gibt, die betroffen sind. Und dennoch war da immer die Frage: Ist das wirklich alles?
Es waren drei verschiedene „Diagnosen“, mit denen ich gleichzeitig herumlief. Und dennoch spürte ich, dass alles irgendwie miteinander verwoben schien, dass ich noch tiefer schauen musste, um zum Kern vorzudringen. Bislang hatte ich mich an der Oberfläche aufgehalten. Ich merkte, wie ich begann, mich hinter den Begriffen zu verstecken, sie zu meiner Identität zu machen, um dem wahren Schmerz nicht ins Auge sehen zu müssen.
Es war leichter für mich zu sagen: „Ich bin hochsensibel, da kann man eben nichts machen“, zumal der Begriff „Hochsensibilität“ weitaus attraktiver war als „psychisch geschädigt“. Eine Zeitlang war das (nicht bewusst getätigte) Versteckspiel sicher sinnvoll, aber es brachte mich nicht ernsthaft weiter. Statt die wahre Ursache ans Licht zu befördern, kämpfte ich lediglich mit den Symptomen.
Bis ich mit dem Thema Entwicklungstrauma in Berührung kam und mir nach und nach immer mehr Lichter aufgingen. Die postnatale Depression? Regretting Motherhood? Meine Hochsensibilität? Alles Folgen eines tief sitzenden Entwicklungstraumas, das vorgeburtlich sowie in den ersten drei Lebensjahren entsteht, wenn Grundbedürfnisse nicht erfüllt wurden, wir z.B. zu wenig bedingungslose Liebe von unserer Mutter (bzw. Bezugsperson) erfahren haben oder nicht dauerhaft sicher gebunden waren und nun ständig im Alltag mit unseren Ur-Ängsten auf subtile Art und Weise konfrontiert werden. Für mich fühlt sich diese Erklärung der Traumafolge als absolut stimmig an, auch wenn sie nicht wissenschaftlich fundiert ist.
Ich atme tief ein, sauge die kühle Meeresbrise förmlich in mich auf. In der Ferne tutet das Horn einer Fähre.
Es ist immer das gleiche Thema, das uns Menschen antreibt: Die Suche nach der bedingungslosen Liebe. Wer sich ihrer nicht sicher fühlt, der leidet. Diese Wahrheit schmerzt sicherlich mindestens genauso stark.
Ich leide auch noch unter alten Wunden. Aber ich weiß jetzt um die Ursachen. Ich habe verstanden, dass mein Körper alte Traumata noch nicht überwunden hat und mein Nervensystem deswegen heute noch viel zu oft überreagiert. Darunter leiden meine Kinder sicherlich genauso wie ich selbst.
Es ist schwer, sich nicht als Opfer seiner eigenen Umstände einzuigeln oder sich nicht zu schämen. Selbst im eigenen Freundes- und Familienkreis ist Trauma immer noch ein Tabu-Thema. Mir hilft das Wissen, dass Entwicklungstraumata keine Randphänomene sind, sondern, laut Trauma-Experten, ganze Generationen zu betreffen scheinen.
Trauma klingt erstmal sehr negativ und nach aussichtloser Vergangenheit, die bis heute wirkt. Dabei schwingt eine Hoffnungslosigkeit mit, man wäre das Opfer seiner selbst und könne eh nichts ändern, egal, wie sehr man sich bemüht. Vor allem, wenn man mit dem Mutterwerden sozusagen vom Opfer zum Täter wird, weil die eigenen Kinder einen triggern und unser verletzter Anteil Reaktionen hervorruft, die mit dem reinen Verstand nicht zu steuern sind. Auf einmal schreien wir unsere Kinder an oder können keine körperliche Nähe ertragen. Ich verstehe diejenigen Mütter, die deswegen Angst um die Zukunft ihrer Kinder haben. Aber Angst ist in dem Fall kein guter Ratgeber, wenn er uns lähmt und noch mehr verhärten lässt.
Ich höre das Meer unablässig rauschen, fühle das Wasser über meine Füße laufen, leise und sanft. Ein Gefühl tiefen Friedens macht sich in mir breit.
Ich verstehe das Leben nach all den Jahren anders. Als spiritueller Mensch fühle ich eine liebevolle Dimension, die größer ist als alles, was wir begreifen können. Meiner Lebenseinstellung entspricht es, dass Leben Veränderung bedeutet und nicht Ausharren in Zuständen oder Opferrollen. Warum sollte das bei etwas Grundlegendem wie dem urmenschlichsten Streben nach bedingungsloser Liebe anders sein?
„Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“
Martin Luther
Mein Apfelbäumchen -im übertragenen Sinne- ist primär der Weg zu mehr Muttergefühl und nebenbei zu mir selbst, zu meiner Ganzheit. Ich weiß, dass dieser Weg sehr lang wird. Vielleicht werde ich mein Ziel in diesem Leben auch nie erreichen. Und dennoch glaube ich, dass jeder liebevolle Schritt dahin zählt. Selbst wenn ich noch zig Male straucheln werde, Umwege in Kauf nehmen muss oder zeitweise am liebsten alles hinschmeißen würde.
Ich bin auf meinem eigenen Weg hin zur inneren Wahrheit und Heilung. Ich habe die schmerzhafte Tatsache akzeptiert, vor der ich jahrelang weggelaufen war und die ich nicht wahrhaben wollte: Ich leide heute noch unter einem Trauma aus meiner Kindheit.
Und auf einmal empfinde ich genau das als befreiend. Weil es mich eben nicht hilflos dastehen lässt. Ich kann etwas tun, um verletzte Anteile zu integrieren. Ich kann mit meinem inneren Kind und meinem inneren Erwachsenen arbeiten. Ich kann Körper-Übungen zur Selbstregulation machen, um mein Stresstoleranzfenster zu weiten. Ich kann etwas verändern. Und wenn es auch nicht von Heute auf Morgen geht.
Die Krücken, auf denen Sätze stehen wie „Ich bin hochsensibel“, „Ich bin freiheitsliebend“ oder „Ich bin traumatisiert“ sind für mich ab jetzt nicht mehr als das: Hilfreiche Orientierungsstützen. Sie sind hoffentlich immer weniger Teil meiner Identität, hinter der ich mich verstecken muss, auch wenn sie helfen, die Auswirkungen meines Traumas besser zu verstehen.
Einmal tief eingetaucht in die eigene Seele und somit ein Gefühl für das Ausmaß an Auswirkungen von frühen Verletzungen bekommen, wird mein Blick auch für meine Umwelt sanftmütiger. In dem Wissen, dass auch wir lediglich Spiegel für andere Menschen und deren Verletzungen sind, muss ich Kränkungen, Abweisungen oder emotionale Ausbrüche gar nicht mehr persönlich nehmen. Wer weiß, was der andere alles erlebt hat oder mit welchen verinnerlichten Glaubenssätzen er herumläuft, dass er nun so spricht und handelt, wie er es tut?
Natürlich ist auch diese Art des Umgangs mit unseren Artgenossen nicht leicht umzusetzen. Vor allem nicht, wenn ich gerade selbst involviert bin. Und dennoch hilft uns dieser milde Blickwinkel sicher nicht nur im Umgang mit anderen, sondern vor allem mit uns selbst.
Eine Möwe kreischt in der Ferne. Ihr Ruf erinnert mich an eine tiefe Sehnsucht, die in mir steckt. Sehnsucht nach mir selbst. Ich lächle. Und mein Herz wird weit.
Eine kurze Bemerkung zum Schluss: Bislang trug mein Blog den Untertitel „Freiheitsliebend. Hochsensibel. Mutter.“ Auch an dieser Stelle möchte ich mich nun in liebevoller Dankbarkeit von diesen Identifikationen lösen. Ab sofort trägt mein Blog einen neuen Slogan: „Mein Weg zu mehr Muttergefühl“. Es ist meine ganz persönliche Reise, auf der ich mich seit über sieben Jahren befinde und die längst noch nicht abgeschlossen ist. Ich freue mich, wenn du mich (weiterhin) ein Stück meines Weges begleitest!
Denkanstöße auf YouTube zu meinem heutigen Beitrag:
Psychotherapeutin Dami Charf von traumaheilung.de vertritt ihre Meinung zum Zusammenhang von Trauma und hochsensibel sein. Außerdem erklärt sie verständlich, wieso es problematisch wird, wenn wir uns zu sehr mit etwas identifizieren, z.B. mit Hochsensibilität.
Auch Logotherapeutin Elena Pfarr und Psychotraumatologe Franz Ruppert diskutieren in diesem Video-Chat über die Wahrscheinlichkeit, dass Hochsensibilität eine Folge von frühen Traumata darstellt, die bereits vorgeburtlich stattgefunden haben können.
Warum reden wir so ungern über Trauma? „Warum Trauma ein Tabuthema ist, das Wissen um Traumata nichts verändert und wie wir es integrieren“. Ein Interview von „Sag’s mit Liebe“ mit Logotherapeutin Elena Pfarr.